Wenn eine Seniorin scheinbar mit jemandem spricht, der nicht da ist, ist sie keineswegs senil. Sie trägt wahrscheinlich nur die neueste Technik im Ohr. Welche Neuigkeiten es in Sachen Hören gibt, war bei der EUHA in Nürnberg zu erleben.
Telefonieren, ohne ein Smartphone in der Hand zu halten? Mit einem Druck aufs Ohr das Gespräch beenden? Oder seine Gesundheitsdaten ohne ein externes Messgerät abfragen? Hörgeräte sind längst zu Hörsystemen geworden. Während des 64. EUHA Kongresses des Hörakustiker in Nürnberg haben 154 Aussteller aus 20 Ländern ihre Neuigkeiten vorgestellt. Zudem informierten Experten mit 22 Vorträgen und in sechs Tutorials die Spezialisten rund ums Hören über die Minicomputer, die im oder auch hinter dem Ohr sitzen.
„Ich fühle mich manchmal wie ein Geheimagent“, sagt Miroslav Nemec, der als „Botschafter des Hörens“ auf der EUHA unterwegs war. Zu Anfang wollte er es nicht wahrhaben. „Es ist ja etwas, was man meist verheimlichen möchte“, sagt der Schauspieler, den die meisten als Münchner Tatort-Kommissar Ivo Batic aus dem Fernsehen kennen. Bei einem Dreh 2004 hatte er einen Hörsturz. Seitdem hat er im oberen Hörbereich einen Einbruch erlitten. Zuerst hat er versucht, mit diesem Manko zu leben. Jetzt trägt er Hörsysteme von Signia, mit denen er auch telefonieren kann, ohne das Handy aus der Tasche holen zu müssen. Die Mini-Geräte hinter dem Ohr möchte er nicht mehr missen, haben sie doch dazu beigetragen, dass er wieder an Lebensqualität dazugewonnen hat.
Nemec ist kein Einzelfall. Neun Jahre warten Betroffene durchschnittlich, bis sie zum Hörakustiker gehen, um sich helfen zu lassen. Immer mehr Menschen stellen dann verwundert fest, dass Hörgeräte meist mehr können, als einem zum besseren Hören zu verhelfen. Die kleinen Mini-Computer im Ohr sind zu Helfern in vielen Situationen geworden. Aus diesem Grund stand die Künstliche Intelligenz (KI) auch im Mittelpunkt der diesjährigen EUHA. Neue Akustik- und Bewegungssensoren, leistungsfähigere Akkus, ein schickes Design – die Branche zeigt, was sie kann. „Aber das ist alles nichts ohne einen guten Hörakustiker“, betonte EUHA-Präsidentin Beate Gromke. Nur wenn er dem Kunden ein Gerät angepasst habe, könnten die Möglichkeiten von KI vollends ausgeschöpft werden. „Der Hörakustiker ist Bindeglied zwischen der Technik und dem Kunden.“
Die Ansprüche der Kunden haben die Unternehmen versucht, in ihre Entwicklungen aufzunehmen. „41 Prozent der Menschen mit Hörhilfen wünschen sich eine bessere Klangqualität beim Fernsehen“, sagt Marco Faltus von Phonak. 43 Prozent ein besseres Verständnis beim Telefonieren und 48 Prozent in Gesellschaften. Bislang war gerade das ein Problem. Man konnte zwar einem Menschen in einer Gruppe gezielt zuhören, bei mehreren wurde es aber schwierig. Das haben die Ingenieure von Phonak über ein Mikrofon gelöst, das beispielsweise bei einem gemeinsamen Abendessen direkt auf dem Tisch platziert wird.
„Hörsysteme sind geistige Fitmacher“, sagt Horst Warncke von Oticon. Er stellte ein System vor, mit dem Schwerhörige erstmals nicht nur diverse Sprecher, sondern auch vorbeifahrende Autos oder Kaffeemaschinen im Hintergrund hören und dann auch einordnen können. „Mit dem Open Sound System ist das möglich“, sagt er. Durch das System gäbe es auch bei den Betroffenen eine weitaus geringere Höranstrengung. „Eine schwerhörige Lehrerin, die ein altes Hörgerät trug und abends so kaputt war, dass sie um 21 Uhr ins Bett ging, bleibt heute mit dem neuen Gerät zwei Stunden länger wach“, erzählte er. Auch er betonte, dass eine persönliche Anpassung beim Hörakustiker Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Systems sei.
Dem allgemeinen Trend zur Personalisierung will auch das Unternehmen ReSound Rechnung tragen, das es seit 150 Jahren gibt. „Unsere Produkte sind längst keine Nischenprodukte mehr“, sagt Martin Schaarschmidt von ReSound. Durch die Vernetzung zum TV oder zum Musikstreamen sei eine Brücke zum Konsumbereich gebaut worden, in dem auch jüngere Menschen ohne Hörschädigung unterwegs sind. „Wir bieten personalisierte Medizintechnik“, sagt er. Auch hier sei der Akustiker gefragt: Er ist in der Lage, dem Kunden auf seinen Gehörgang perfekt angepasste Otoplastiken anzufertigen, die dann die neuste Technik zum besseren Klagerlebnis tragen. Die Umgebung kann dabei komplett ausgeschaltet werden. „Die Hörumgebung wird wie mit einem DJ komplett neu gemixt“, erklärt Sascha Haag von Signia, die zur Sivantos Deutschland gehören. Das Unternehmen hat ein neues Gerät auf den Markt gebracht, das auch Achsbewegungen und Beschleunigungen des Trägers erkennt. Aus diesen Bewegungsprofilen schließt das Gerät, welche Anforderungen es gerade zu meistern hat. Muss es sich auf Hintergrundgeräusche einstellen? Woher wird der Sprecher kommen? Dementsprechend steuert es die Dinge, die über den Lautsprecher tatsächlich verstärkt werden. Miroslav Nemec ist jedenfalls begeistert von seinen kleinen Helfern im Ohr. Er möchte sie nicht mehr missen – auch wenn er zu Anfang ein Geheimnis um sie gemacht hat.